Urteil des OLG Karlsruhe vom 10.09.2018 (Az.: 1 U 155/17)
Das OLG hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden: Die Klägerin fuhr mit ihrem Pkw auf einer Kreisstraße, hinter ihr ein weiteres Fahrzeug und als drittes Fahrzeug der Beklagte. Die Klägerin bog außerorts in einen kreuzenden Feldweg ein. Dieser Weg war für Kfz mit Ausnahme des landwirtschaftlichen Verkehrs gesperrt, was durch die Verkehrszeichen 260 und 138 etwa 20 Meter nach Einfahrt in den Feldweg angeordnet war. In dem Moment, als die Klägerin nach links abbog, kam es zur Kollision mit dem Beklagten, der zunächst das vor ihm fahrende Fahrzeug überholt hatte und dann die an erster Stelle fahrende Klägerin überholen wollte.
Wie so häufig in diesen Fällen, waren die Rechtsansichten der Unfallbeteiligten völlig konträr: Die Klägerin war der Ansicht, der Beklagte hafte in vollem Umfang alleine. Der Beklagte war dagegen der Überzeugung, allein die Klägerin habe den Unfall verursacht. Deshalb bestünden keinerlei Ansprüche gegen ihn. Das OLG Karlsruhe ist in seiner Entscheidung von einer Haftungsquote 50 / 50 ausgegangen.
Zunächst stellte das OLG fest, dass das Unfallereignis für keine der Parteien ein „unabwendbares Ereignis“ sei, mithin eine Mithaftung weder auf Seiten der Klägerin noch auf Seiten des Beklagten ausgeschlossen sei. Auch sei ein Verschulden des Fahrzeugführers des Beklagtenfahrzeuges nicht auszuschließen.
Von einem unabwendbaren Ereignis sei nur dann auszugehen, wenn sich der Schaden auch bei vorsichtigem Vorgehen eines PKW-Fahrers nicht habe vermeiden lassen. Maßgeblich sei dafür nicht das Verhalten eines „Superfahrers“, aber dasjenige eines „Idealfahrers“. Die Prüfung, ob ein Unfall unabwendbar gewesen sei, dürfe sich nicht auf die Frage beschränken, ob ein Fahrer in der konkreten Situation untadelig reagiert hat, sondern sei auf die Frage zu erstrecken, ob ein „Idealfahrer“ überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre. Nur dann könne ein „unabwendbares Ereignis“ mit der Folge angenommen werden, dass insoweit ein Haftungsbeitrag nicht bestehe. Auch ein „Idealfahrer“ dürfe – auch im Rahmen von § 17 Abs. 3 StVG – grundsätzlich darauf vertrauen, dass grobe Verkehrsverstöße durch andere Verkehrsteilnehmer nicht begangen werden, solange keine besonderen Umstände vorlägen, die geeignet seien, ein solches Vertrauen zu erschüttern.
Zu Lasten der Klägerin sah es der Senat als erwiesen an, dass – dies hatte ein Sachverständigengutachten zur Überzeugung des Senats ergeben – sie das überholende Beklagtenfahrzeug rechtzeitig hätte erkennen können, wenn sie – was jedem Fahrzeugführer gemäß § 9 StVO obliegt – zurückgeschaut hätte, bevor sie abbog. Allerdings folge aus dem Umstand, dass die Klägerin in eine für den allgemeinen Verkehr gesperrten Landwirtschaftsweg einbiegen wollte, keine einen Linksabbieger treffende besondere Sorgfaltspflicht. Zwar müsse der Linksabbiegende sich umso sorgfältiger verhalten, je weniger das Abbiegeziel im Fahrverkehr erkennbar und erwartbar ist. Alleine aber deshalb, weil es sich nach ca. 20 Metern um einen für den allgemeinen Verkehr gesperrten Feldweg handele, seien eine erhöhte Sorgfaltspflicht und damit ein erhöhter Haftungsmaßstab nicht anzusetzen. Im Übrigen hätten zum Unfallzeitpunkt keine Einschränkungen der Sichtverhältnisse bestanden.
Die Beklagtenseite könne sich – so der Senat weiter – nicht zu ihren Gunsten auf den Beweis des ersten Anscheins zu Lasten der Klägerin berufen. Dieser gelte nämlich nur dann, wenn der Überholer dem Linksabbieger unmittelbar folgt, nicht jedoch wenn – wie im vorliegenden Fall – der Überholer eine kleine Kolonne überholt und dann mit dem vordersten, linksabbiegenden Fahrzeug kollidiert.
Umgekehrt müsse sich der Beklagte als Überholer nicht vorwerfen lassen, dass er trotz unklarer Verkehrslage überholt und damit gegen ein Überholverbot verstoßen habe. Unklar sei eine Verkehrslage lediglich dann, wenn nach allen Umständen des Falles mit einem gefahrlosen Überholen nicht gerechnet werden könne. Ein solches Überholverbot greife etwa dann, wenn sich für den Überholer nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende gleich tun werde. Beispielsweise ergebe sich eine unklare Verkehrslage dann, wenn sich der Vorausfahrende in seiner Fahrweise unklar verhält oder seine Fahrweise insgesamt unsicher erscheint.
Nach Abwägung der Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten kam der Senat dann zu einer Haftungsquote von 50/50. Auch dann, wenn in der zu beurteilenden Verkehrssituation das Überholen nicht verboten sei und sich der Überholer grundsätzlich darauf verlassen könne, dass sich der vor ihm befindliche Verkehr ordnungsgemäß verhält, so müsse doch berücksichtigt werden, dass eine generelle objektive Gefährlichkeit des Überholens bestehe, insbesondere dann, wenn dies mit beträchtlicher Geschwindigkeit geschehe. Dies wirke sich zu Lasten des Überholers und somit der Beklagtenseite durch Erhöhung der Betriebsgefahr aus.
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe zeigt, wie unterschiedlich das Rechtsempfinden im Straßenverkehr sein kann. Die Klägerin war der festen Überzeugung, sie habe beim Abbiegen nach links alles richtig gemacht, und wollte vollen Ersatz ihrer Schäden erreichen. Die Beklagtenseite hingegen war der Überzeugung, dass zu Lasten der Klägerin der Beweis des ersten Anscheins eingreife. Sie hätte an der fraglichen Stelle nur unter Beachtung einer erhöhten Sorgfaltspflicht nach links in den für den öffentlichen Verkehr gesperrten Wirtschaftsweg abbiegen dürfen.